Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,

wenn Ihr diese Zeilen lest, habt ihr es geschafft; das große Ziel, eine wichtige Etappe in Eurem Leben, habt Ihr dann erreicht: Ihr habt die Abiturprüfung bestanden. Deshalb möchte ich Euch zunächst gratulieren:

Herzlichen Glückwunsch zum bestandenen Abitur!

Das Abiturzeugnis ist wie ein Schlüssel, es schließt Euch neue Möglichkeiten des Lebens auf, jedem nach seinen Voraussetzungen, Anlagen und Wünschen eine eigene Welt.

Auch wenn es in Euren Ohren vielleicht zu euphemistisch klingt, möchte ich die vor Euch ausgebreitete Welt und Euren Weg dort hinein mit einem Wort von Franz Kafka benennen:

"Es ist gut denkbar, daß die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verdrängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie."

Das ist die Kunst des Lebens, dieses richtige Wort, den treffenden Namen zu finden. Das hat aber nicht mit einer Geheimwissenschaft zu tun. Vielmehr geht es darum, daß Ihr dem vertraut, was in Euch ist, was Ihr könnt, was Euch leitet, daß Ihr aber auch hartnäckig in die Tiefe geht, daß Ihr geduldig Ausschau haltet, daß Ihr auch gegen den vordergründigen Schein vertrauensvoll weitermacht. Nur Ihr selber könnt Euer Leben leben. Nur Ihr selber könnt den Schlüssel finden und gebrauchen, daß "die Herrlichkeit des Lebens, die um Euch bereit liegt, tatsächlich kommt".

Diese "Herrlichkeit" gibt es nicht zum Nulltarif. Ich wünsche Euch aber, daß die Erfahrungen von Mühe und Unsicherheit, von Selbststudium in Einsamkeit und Freiheit, von Wagnis und Vertrauen, von Irrweg und Finden Euch tiefer zu der Gewißheit führen, daß es gut ist zu leben – auch in unserer Zeit und unter den Bedingungen, die heute die Zukunft in mancher Hinsicht eher düster erscheinen läßt. Laßt Euch Euren Optimismus nicht rauben!

"Jung sein heißt, sich zu begeistern für Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden, Schönheit und Güte. Jung sein heißt, voller Ideale und Hoffnungen zu sein. Es heißt auch Einsamkeit zu erfahren und die Angst, daß sich diese wertvollen Hoffnungen nicht erfüllen." (Johannes Paul II.) Weil diese Ambivalenz zum Leben gehört, ist es gut, einen Ort zu haben, wo man mit Sicherheit "ein Dach über dem Kopf und über der Seele" (Michael Zulehner) findet.

Wir, die wir Euch nach dem Abitur jetzt gehen lassen müssen, hoffen, daß Eure Schule Euch während der Schulzeit ein solches Zuhause war. Für die Zukunft möchte ich Euch zurufen: Kommt einfach nach Hause, wenn ihr meint, daß wir Euch bei der Lösung irgendwelcher Probleme behilflich sein können, wenn es hilfreich scheint, sich auszutauschen über eine wichtige Frage, oder wenn ihr einfach mal wieder vorbeischauen möchtet – mit oder ohne besonderen Anlaß. Früher war es üblich, in den Balken über der Eingangstür einen Gruß einzumeißeln. Im Sauerland habe ich das an vielen Fachwerkhäusern gesehen. Mit diesem Grußwort möchte ich schließen:

Friede denen, die hineinkommen,

Segen denen, die wieder hinausgehen.